Guckst du, Yogalehrer?
Als Yogalehrer musst du manchmal schon genauer hinschauen: Befinden sich alle Schüler in derselben Haltung? Konnte sich die Gruppe auf einheitliche Definitionen von rechts und links einigen? Sind alle gut in der entsprechenden Asana angekommen oder braucht jemand ein Hilfsmittel oder einen Adjust bzw. Assist? Stimmt das Tempo oder ist vom Ujjayi nur noch oberflächliche Schnappatmung übrig? Zwar bin ich nicht unbedingt der Held in Sachen Multitasking (das können ja angeblich nur Frauen), dafür habe ich immerhin noch ganz gute Augen. Und wenn in der Yogastunde irgendwas nicht passt, kann ich schnell eingreifen, hier und da etwas korrigieren, vielleicht ein Hilfsmittel anbieten oder die Klasse kurz unterbrechen und etwas vorturnen (und eventuell zur Belustigung aller aus dem Kopfstand kippen). Aber bevor ich reagieren kann, muss mir erst mal was auffallen und deshalb streift mein Blick unablässig durch den Übungsraum auf der Suche nach Unregelmäßigkeiten.
Blick nach unten.
Während des Studiums (ganz schön lange her) habe ich ein Praktikum in der Automobilbranche absolviert (Stichwort: LKW-Reifen). An meinem ersten Tag dort wurde mir von einem Kollegen erklärt, dass ich ab sofort mit gesenktem Blick durch die Straßen flanieren werde, um jedem Auto auf die Reifen zu schauen. Und das Krasse ist: Es stimmte! Noch viele Monate nach Ende des Praktikums schaute ich bei jedem PKW und LKW nach unten, um die montierte Reifenmarke zu checken. Und nachdem sich das endlich wieder normalisiert hat, schaue ich als Yogalehrer im Einsatz bei den SchülerInnen erst mal auf die Füße und die Beine. So hat man es mir im Yoga Teacher Training eingehämmert und es macht natürlich auch Sinn. Jede Asana lebt von ihrem Fundament und Korrekturen werden deshalb immer von unten nach oben ausgeführt. Darum geht der typische Yogalehrerblick im Unterricht zuerst von Matte zu Matte, bevor man in den Gesichtern checken kann, ob die Klasse nach drei Minuten vielleicht nicht mehr im Krieger II stehen möchte/sollte.
Die totale Überwachung?
Als Lehrer bin ich ja nicht der einzige Beobachter im Yogaunterricht. Meist bitte ich „meine“ Yogi(ni)s zu Beginn der Klasse, sich selbst (insbesondere ihren Atem) zu beobachten. Beobachten ohne zu werten und ohne zu beeinflussen. Einatmen. Ausatmen. Pause. Einfach so, den Atem kommen und gehen lassen und ihn wahrnehmen. Für die meisten klingt das so einfach, aber in Wirklichkeit halte ich das nach wie vor für eine der schwierigsten Übungen überhaupt. Denn wenn mich jemand bittet, „ganz natürlich“ zu atmen (oder zu lachen oder zu gucken), dann gebe ich mir ganz besonders Mühe, das auch zu tun. Das Ergebnis? Nahezu perfekt getimte Atemzüge, so locker und ungezwungen, dass das Wort „UNNATÜRLICH“ mit jedem Schnaufer mitrasselt. Oder entsprechend gekünstelte Lacher oder Blicke. Es geht einfach nicht! Und ich weiß, ich bin nicht er Einzige, dem es so geht. Manchen SchülerInnen kann man manchmal förmlich dabei zusehen, wie sie in ihrer Natürlichkeit nach Perfektion streben. Aber warum denn auch nicht? Den Rest der 90 Minuten wollen wir uns beim Yoga ja auch besonders anstrengen, oder?
Achtung, Meeting.
Bei meiner Arbeit in der Werbeagentur habe ich oft etwas Ähnliches beobachtet: Im großen Meeting (oder noch schlimmer: „Brainstorming“) sagen viele Leute viele Sachen. Und alle anderen hören zu. Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass wir zuhören, um etwas zu verstehen. Aber besonders bei der Arbeit hören wir meistens zu, um möglichst schnell möglichst schlau etwas zu erwidern. Zuhören. Antworten. Pause. Eigentlich nicht ganz Sinn der Sache, aber man tut eben, was man kann, um möglichst engagiert zu seinwirken. Genau wie beim „Kannst-du-da-mal-drüber-schauen“. Kein Mensch würde guten Gewissens eine Arbeit seines Kollegen nur anschauen und abnicken. Da muss man schon mindestens einen Satz umstellen oder eine Zahlenkolonne verschieben, sonst wäre die Arbeitszeit am Ende noch verschwendet gewesen. Typischer Business-Quatsch natürlich, aber irgendwie auch verständlich. Mich hat noch keiner nur fürs Zusehen bezahlt. Also außer als Yogalehrer natürlich, siehe oben.
Mach die Augen auf!
Auch wenn wir vieles sehen, beobachten wir es eigentlich nicht. Wir nehmen es vielleicht gar nicht wahr, weil es schon immer da ist und damit selbstverständlich geworden ist. Und wenn wir dann etwas tatsächlich realisieren, wollen wir es meistens gleich verändern. Das schlafende Kind noch besser zudecken, die Blumen in der Vase noch schöner arrangieren oder eben unsere Atemzüge noch natürlicher kommen und gehen lassen. Wir reagieren dann, wenn wir es nicht sollen. Weil wir es können. Aber bei all den anderen Dingen, die wir so um uns herum beobachten, wollen wir nicht gleich eingreifen. Weil wir es nicht können, oder zumindest denken, dass es so ist. Wenn ein halbes Bundesland zu Nazis mutiert. Wenn ein Energieriese unnötigerweise einen uralten Wald abholzt. Oder wenn einige wenige versuchen, vielen anderen ihren Wohlstand zu rauben. All das können wir jeden Tag beobachten, in der Zeitung, im Radio und im TV. Aber machen wir was? Natürlich nicht. Zu weit weg, zu abstrakt. Also optimieren wir weiter unseren Atem. Vielleicht wäre es ein Anfang, hier mal richtig loszulassen und den Atem einfach Atem sein lassen und die Gedanken Gedanken. Es heißt, wenn man lange genug meditiert, sieht man die Dinge klarer. Und wer weiß, vielleicht sehen wir zwischen zwei Atemzügen irgendwann den Unterschied zwischen dem, was gut ist, wie es ist und allem anderen? Ich probiere das jedenfalls mal aus. Namaste.
Fotos: Liza „Ich sehe dich“ Meinhof