Das Yogawort zum Sonntag – Bataclan

Spürst du es auch?

Auch wenn ich mich nach wie vor eher skeptisch und halbwissend durch die Eso-Spiri-Welt bewege: Es gibt einige Dinge, die ich bedingungslos unterschreibe. Dazu gehört, dass es so etwas wie besondere Kraftorte gibt. Also irgendwelche Koordinaten, die aus irgendwelchen Gründen mit irgendwelcher Energie aufgeladen sind. Das kann ein geschlossener Raum sein oder der Gipfel eines Berges. Ein wunderschöner Strand oder vielleicht auch nur der gemütliche Stuhl an Großmutters altem Küchentisch. Wenn jemand an diesem Platz eine energetische Veränderung fühlt, wird er für ihn zu einem Kraftort. Um welche Form von Energie es sich handelt? Wo sie herstammt und wie genau sie an diesem Ort gespeichert wird? Das müssen weisere Menschen erklären. Ich kann nur als neutraler Beobachter sagen, dass ich daran glaube, dass es solche Powerplätze gibt.

Meine Wohlfühl-Koordinaten.

Jeder hat seine eigenen Plätze, an denen er den Energiefluss spürt. Bei mir sind das teilweise recht offensichtliche Orte, wie Machu Picchu in den peruanischen Anden oder das ein oder andere Yogastudio, in dem ich oft praktiziere. Der einsame Berggipfel in Südamerika oder das verschwitzten Parkett in Berlin-Kreuzberg sind von den zahlreichen Besuchern stark aufgeladen, da würde nicht mal ein Ganzkörper-Aluhut schützen. Aber ich fühle mich auch an weniger spektakulären Koordinaten im Fluss mit dem Ganzen: Im Haus meiner Eltern, zum Beispiel, wo ich mit meinen Brüdern aufgewachsen bin. Oder am Baggersee meines Heimatortes in der Nähe von Karlsruhe. Schöne neue Yogawelt hin oder her: Meine Herkunft und mein Erbe sind noch immer der größte Teil von mir. Und meine Kraftorte sind deshalb eher im Badischen teil Baden-Württembergs zu finden als im mittleren Teil Berlins. 

Schön ist anders.

Ein weiterer großer Teil von mir ist meine Liebe zur Musik. Zur Rockmusik. Und in dem Zusammenhang mussten wir alle vor gut drei Jahren mal wieder erfahren, dass es auch Orte des absoluten Schreckens gibt. An denen unfassbares Leid geschah und die seitdem mit negativer Energie geladen sind. Bei den Anschlägen auf den Pariser Musikclub Bataclan am 13. November 2015 starben 90 Menschen, die eigentlich nur einen schönen Abend mit lauter Musik erleben wollten. Als ich erfuhr, dass Superyogi und Rockstar Jay Buchanan mit seinen Rival Sons im Bataclan auftrat, nahm ich das zum Anlass einen Trip nach Paris zu unternehmen und mir diesen traurig-berühmten Ort mal von innen anzuschauen. 

Irgendwie unheimlich.

Im Nachhinein bin ich jetzt froh, dass ich so lange mit dem Besuch des Bataclan gewartet habe. Ich war zwei Tage nach den Anschlägen auf einem Rockkonzert in Berlin und die Atmosphäre war spürbar angespannt. Im Publikum waren Zivilpolizisten und die Security wirkte auffallend nervös. Heute, im vierten Jahr danach, war der Weg von der U-Bahn zum Konzertsaal in Paris immer noch seltsam. Man muss sich automatisch vorstellen, wie das damals gewesen sein muss. Auch beim Betreten des Clubs, im Saal oder selbst auf der Toilette, fühlte sich alles anders an, als es sollte. Wenn es mir schon so ginge, wie musste es dann erst für die Künstler sein, die hier auftraten? Ich habe Jay Buchanan im Interview als feinfühligen, nachdenklichen Menschen kennengelernt, der direkt vor jedem Auftritt Yoga praktiziert. Wie würde er wohl mit diesem Erbe umgehen, das er beim Betreten dieser Bühne annahm?

Volle Kraft voraus.

Man hätte Vieles machen und Vieles sagen können bei diesem Auftritt. Die Rival Sons haben wenig, aber dafür das Richtige gesagt. Und getan, was sie am besten können: Musik spielen und sich die Seele aus dem Leib singen. Mit Demut, Respekt, aber eben auch einem erhobenen Kopf gegenüber denen, die das nicht verstehen und mit Gewalt bekämpfen wollen. Statt Hass zu schüren oder in Trauer zu versinken, gab der Sänger gleich zu Beginn der Show mit wenigen Worten die Parole des Abends bekannt: Lasst uns diesen Raum mit so viel Liebe wie möglich füllen. Und zusammen tanzen und singen. Genau wie beim Yoga: Mach deine Praxis und der Rest passiert von selbst. Und so war auch der Rest des Abends so etwas wie die vielleicht intensivste Yogaklasse meines Lebens. Noch nie habe ich auf einem Konzert so eine Stimmung erlebt. Die Künstler legen sich bei so einem Gig noch mehr ins Zeug als sonst. Und das Pariser Publikum ist dankbar und ausgelassen und wild und laut. Ich bin sowieso schon recht begeisterungsfähig bei meinen Konzertbesuchen, aber an diesem Samstagabend im Bataclan herrschte Ausnahmezustand. Mein Gesicht war ein einziges Grinsen, der Körper in Bewegung und ab und zu stupste mich ein ebenfalls grenzdebil grinsender Fremder an und nickte mir – ebenso verzückt – zu.

Mehr ging nicht rein.

Für mich war der Abend ein Erfolg, vor allem aus spiritueller bzw. emotionaler Sicht. Das Konzert (und alle anderen Konzerte seit den Anschlägen) hat das Batcalan mit Liebe gefüllt. Mit positiver Energie. Seit 150 Jahren gibt es das Gebäude und mindestens genauso lange wird es mit der Erinnerung an diesen furchtbaren Novemberabend 2015 leben müssen. Aber damit ist es eben auch für alle, die es betreten ein ganz besonderer Kraftort. An dem es sich lohnt, ein wenig mehr Liebe und Begeisterung aus sich rauszulassen. Ich habe natürlich keinen Vergleich und bin auch ein wenig verliebt in die Rival Sons. Aber sie haben meiner Meinung nach einen super Job gemacht. Peace, Love und Rock’n’Roll als Antwort auf blinden Hass und engstirniges Gedankengut. Und weil das noch nicht genug war, gab es mitten im Set noch eine Unterbrechung für einen Heiratsantrag im Publikum – inklusive riesen Applaus des gesamten Saals. Am Ende des Konzerts konnte man Frontmann Jay Buchanan aber ansehen, dass er noch einige Tage brauchen wird, seinen schwierigen Auftritt in Paris zu verarbeiten. Immerhin hat er seine Yogapraxis, die ihm hoffentlich dabei helfen wird. Namaste.

PS: Der Club hat erst ein Jahr nach den Anschlägen komplett saniert wiedereröffnet. Alles, was noch an den 13. November erinnert, sind die Einschusslöcher in einem alten Wandgemälde. Die habe ich aber erst beim Rausgehen entdeckt, als sie mich in meiner Bubble aus Liebe und Musik nicht mehr schrecken konnten.