Das Yogawort zum Sonntag – Plastikstrohhalm

Muss nur noch schnell die Welt retten.

Unsere Gebete wurden erhört, das kollektive Nörgeln und Auf-Facebook-Trollen hat sich endlich gelohnt: Nach der Glühbirne und der kostenlosen Plastiktüte geht es nun dem verhassten Plastikstrohhalm an den Ozean-verseuchenden Kragen. Champagner für alle – aber nur mit Naturkorken und am besten direkt aus der Pulle. Ich bin so dankbar, dass ich das noch erleben darf. Endlich tut die Politik mal was, statt nur ihr Ego zu massieren, sich das Bankkonto zu füllen und der Industrie in den Allerwertesten zu kriechen. Es ist ja nicht so, dass z.B. Verbrennungsmotoren oder Kohlekraftwerke der Umwelt schaden würden. Vielmehr sind es die Milliarden und Abermilliarden von Trinkhalmen, mit denen wir täglich unsere Schulmilch (noch immer staatlich subventioniert), unseren Eiskaffee (im nicht recyclebaren „Papp“-Becher) oder unseren sommerlichen Cocktail (Alkohol!!!) schlürfen. Ja klar, der Trinkhalm ist nur ein Anfang (wie das geniale Dosenpfand seinerzeit), aber einer mit Signalwirkung: Bestimmt werden ganz bald auch verzinkte Büroklammern, Haargummis mit Weichmachern und Socken mit Elastik-Bündchen verboten. Revolution, Baby!

Die Leute haben einfach keine Probleme mehr.

Ein ziemlich ignoranter Mensch hat mal zu mir gesagt, dass die Leute seiner Meinung nach durchdrehen, weil sie einfach keine echten Probleme mehr hätten. Und deshalb anfingen, vegane Markisen und glutenfreie Topflappen zu kaufen und sich öffentlich mit einem übertrainierten Zeigefinger darüber auszulassen, was auf der Welt alles schief ginge. Weltverbesserung auf der Zielgeraden, könnte man meinen, wenn alle anderen Missstände schon beseitigt sind. Jüngstes Beispiel: Jemand in meinem Umfeld hat ein Video von Gin Tonic Yoga auf Facebook geteilt. Eigentlich kein Problem, jeder weiß, dass das mit Yoga nichts zu tun hat, eher was mit Gin Tonic. Ich finde das lustig (außer für trockene Alkoholiker), genau wie Bier-Yoga und mit Blasphemie habe ich sowieso kein Problem. Plus: Leute, die Spaß am Alkoholtrinken haben, sind mir zehnmal lieber als welche, die alleine in ihr Bier weinen. Punkt. Aber eine Bekannte von mir hat das Video mit folgenden Worten kommentiert: „Das Traurigste an dem Video sind die Plastikstrohhalme!“ Traurig. Richtig traurig.

Der Tellerrand ist zum Drübergucken.

Bitte nicht falsch verstehen: Plastikmüll ist ein Problem, vor allem, wenn er z.B. im Meer landet und dort von Wildtieren verspeist wird. Aber dieses Problem wird nicht von meinem Gin Tonic verursacht, sondern von der Person, die den Trinkhalm in die tosende See wirft. Und wo wir schon so maritim unterwegs sind: Noch immer ertrinken jeden Tag ganze Familien im Meer, weil sie so verzweifelt sind, dass sie ihre Heimat in einem Schlauchboot verlassen. Erwachsene Menschen mit kleinen Kindern. Denen sind Trinkhalme erst mal egal, denke ich. Genau wie Misshandlungs- und Vergewaltigungsopfern. Oder denen, die ihren Kindern beim verhungern zuschauen müssen. Oder Leuten, die an verschmutztem Trinkwasser draufgehen. Oder an Krieg oder Terror oder Krankheit oder an Überarbeitung, weil sie 16 Stunden am Tag unsere Yogaklamotten zusammennähen.

Irgendwann ist auch gut.

Sorry, das muss jetzt sein: Der Trinkhalm ist mir sch…egal. Wirklich. Und ich weiß, niemand kann allen Flüchtlingen helfen, alle Tiere befreien oder alle Atomkraftwerke abstellen. Und ich weiß, jeder kleine Beitrag ist wichtig, nur zusammen können wir die Welt retten. Jeder da, wo er am besten kann. Aber Leute: Der Plastikstrohhalm ist kein Teilerfolg, der Plastikstrohhalm ist ein Ablenkungsmanöver, ein PR-Trick, der in den Medien eine Woche lang wertvollen Platz einnimmt. Platz für größere Probleme, die ich als Verbraucher nicht lösen kann. Als Verbraucher kann ich auf den Trinkhalm einfach verzichten, so wie damals auf FCKW oder jetzt vielleicht aufs Auto. Aber bei den großen Problemen bin ich als Verbraucher meistens machtlos. Aber als Wähler habe ich immerhin eine Möglichkeit, was zu ändern, denn für die richtig fiesen Auas gibt es Profis und die nennen sich Politiker. Die können Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahren, das ganze Land auf Ökostrom umstellen und lebensfeindliche Tierhaltung beenden. Das sollte alles gar nicht mal so schwierig sein, wenn nur jemand die Eier hätte, das Richtige zu tun. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, sind mit der besten Technologie aller Zeiten ausgestattet und unglaublich gebildet. Und doch regen wir uns über den Plastikstrohhalm auf, statt die ertrinkenden Babys zu retten. Ich brauche jetzt erstmal selbst einen Gin Tonic, ohne Yoga und natürlich ohne Trinkhalm. Namaste.

Fotos: Yogadude


One response to “Das Yogawort zum Sonntag – Plastikstrohhalm”

  1. […] ist das nur mit Yogis und ihrer Wut in den sozialen Netzwerken? Nicht nur, dass man sich beim Asanas üben keinen Gin Tonic mehr kredenzen darf, nein, kürzlich hat sich wieder jemand explizit darüber echauffiert, dass […]